Was sind Naturtöne

Obertöne

Treffen regelmässige Schallwellen auf unser Gehör, nehmen wir dies als Ton war. Töne werden immer durch eine schwingende Quelle (Generator, z.B. eine Saite, eine Lautsprechermembran, Stimmbänder…) ausgelöst und meist durch einen Resonator verstärkt. Die Frequenz der Grundschwingung des Generators (Hz = Schwingungen pro Sekunde) bestimmt die Höhe des Tons. Beschaffenheit von Generator und Resonator die Klangfarbe. Beide tragen dazu bei, dass wir neben der Grundschwingung weitere regelmässige Schwingungen wahrnehmen. Dabei handelt es sich um die sogenannten Obertöne. 

Obertöne sind Töne mit einer Frequenz, die einem ganzzahligen Vielfachen der Frequenz des Grundtones entspricht.

Der erste Oberton eines Tones mit Grundfrequenz 100Hz hat eine Frequenz von 200Hz (2×100), der zweite Oberton 300Hz (3×100), der dritte 400Hz usw. Der n-te Oberton hat eine Frequenz von (n+1) mal der Frequenz des Grundtones. Je nach dem, wie laut jeder dieser Obertöne mitschwingt, nehmen wir eine andere Klangfarbe wahr.

Der Mix der Obertöne bestimmt die Klangfarbe. Je reicher die Obertöne, umso voller der Klang.

Im Video unten werden die Obertöne durch einen Spektrographen dargestellt. Das erste Beispiel ist ein obertonloser Sinuston. Hier ist nur eine Schwingung auf der Grundfrequenz des Tones hör-/sichtbar. Die nächsten Beispiele (Flöte und Orgel aus einem Synthesizer) haben zusätzliche Obertöne. Das letztes Beispiel zeigt das Spektrogramm einer echten Geige. Hier hören wir neben den reichen Obertönen auch leichte Kratzer und Streichgeräusche, welche ja zum Charakter eines echten Instruments gehören. 

Naturtonleiter

Die Naturtonleiter besteht aus einem Grundton und den darüber aufsteigenden Obertönen.

Sie beginnt mit dem Grundton. Der zweite Naturton (= der erste Oberton) hat die doppelte Frequenz des Grundtones -also exakt eine Oktave über dem Grundton. Der dritte Naturton (= der zweite Oberton) hat die dreifache Frequenz des Grundtones – ungefähr eine Quinte über dem zweiten Ton. Der vierte Naturton (=der dritte Oberton) hat die vierfache Frequenz des Grundtones, oder die doppelte Frequenz des zweiten Tones. Er liegt also zwei Oktaven über dem Grundton. Und so weiter. Der n-te Naturton entspricht immer dem (n-1)-ten Oberton. Mit dem grossen C als  Grundton, erhalten wir eine Tonleiter, die so notiert werden kann:

In dieser Notation entsprechen nur die C exakt den üblichen Tönen auf einem gleichstufig gestimmten Klavier. Alle anderen Naturtöne weichen in der Intonation mehr oder weniger deutlich davon ab. Der prominenteste Unterschied befindet sich im 11. Naturton, dem „Fa“ – seine Tonhöhe liegt etwa auf halbem Weg zwischen f“ und fis“.

Die Naturtonleiter bildet seit Jahrtausenden die Basis der Harmonien in verschiedenen Kulturkreisen. Dagegen ist die gleichstufige Stimmung ein junges Phänomen. In Europa begann ihre Verbreitung erst im späten 17.  Jahrhundert. Auslöser war die Erfindung von Tasteninstrumenten mit fixen Tonhöhen, auf denen Akkordfolgen unweigerlich zu Problemen führten. Die Musiker der damaligen Zeit versuchten, den Spagat zwischen möglichst reinen Harmonien und harmonischer Flexibilität mit ausgefeilten Stimmungen in den Griff zu bekommen. Bekanntestes Beispiel ist das „wohltemperierte Klavier“ bei Bach. Durchgesetzt hat sich schliesslich die radikalste Lösung, bei welcher die zwölf Halbtöne jeder Oktave (geometrisch) exakt verteilt. Mathematisch: da sich die Frequenz über eine Oktave verdoppelt, steigt sie zwischen zwei Halbtönen genau um den Faktor der zwölften Wurzel von zwei bzw, 2^(1/12)= 1.059463. Diese gleichstufige Stimmung setzt voll auf die Karte Flexibilität zulasten der harmonischen Reinheit. Dadurch tönen die Harmonien mit jedem Grundton auf dem Klavier gleicht. Heute empfinden wir diese Stimmung als normal. Mozart und Bach wären darüber entsetzt (merke: im Gegensatz zur heute gebräuchlichen gleichstufigen Stimmung hat bei Bach’s wohltemperierten Stimmung jede Tonart ihre eigene Charakteristik).

Nehmen wir das Beispiel mit Grundton C von oben. Der übliche Kammerton a‘ hat eine Frequenz von 440Hz; C entsprechend 65.4Hz. Darauf aufbauend unten die Naturtonleiter (Herleitung: 1x, 2x, 3x … die Frequenz des Grundtones) und die gleichstufige Stimmung (Herleitung: von Halbton zu Halbton Frequenz multiplizieren mit 2^(1/12)). In der letzten Spalte die Abweichung in Cent. Cent sind die geometrische Unterteilung eines Halbtonschrittes auf 100 Teilschrittchen (d.h. Faktor 2^(1/1200), oder geometrisch ein Prozent eines Halbtonschrittes). Ein untrainiertes Ohr hört Unterschiede in der Tonhöhe von etwa 20 Cent. Wir können also noch gut die unterschiedliche Intonation des fa, b‘, a“ und b“ hören. Die anderen Abweichungen nehmen wir direkt kaum wahr.

ObertonNoteGleichstufigNaturton Cents
1C / C265,465,4 
2c / C3130,8130,8
3g / G3196196,2+2
4c‘ / C4261,6261,6 
5e‘ / E4329,6327-14
6g‘ / G4392392,4+2
7b‘ / Bb4466,2457,8-31
8c“ / C5523,3523,3 
9d“ / D5587,3588,7+4
10e“ / E5659,3654,1-14
11fis“ /Fis5698,5719,5-49
12g“ / G5784784,9+2
13a“ / A5880850,3-60
14b“ / Bb5932,3915,7-31
15h“ / B5987,8981,1 -12
16c“‘ / C61046,51046,5

Und so klingt das:

Exakte Harmonie vs. Schwebungen

Unsere westlichen Ohren haben sich seit dem 18. Jahrhundert an die gleichstufige Stimmung gewöhnt. Entsprechend klingt eine Naturtonleiter für die meisten erst mal schräg. Trotzdem kennen viele den Hühnerhaut-Effekt, wenn Gospel-Sänger den Perfect Pitch treffen, ein Alphorntrio erklingt, oder ein Streichquartett die Schöne und den Tod bespielt. Was ist hier los? Ganz einfach: good vibes!

Pythagoras erkannte vor mehr als 2500 Jahren, dass Intervalle (also die Kombination von 2 Tönen) dann harmonisch klingen, wenn ihr Frequenzverhältnis in einem einfachen Bruch dargestellt werden kann. Folgendes sind Beispiele einfacher Bruchzahlen:

  • 2/1 – die (reine) Oktave; in der Tat ist dieser Bruch so einfach, dass wir die beiden Töne als „derselben Ton“ (in unterschiedlichen Oktaven) wahrnehmen.
  • 3/2 – die reine Quinte. In der Naturtonleiter ist g der 3. Naturton, d.h seine Frequenz entspricht 3x der Frequenz des Grundtones. c ist der 2. Naturton, d.h seine Frequenz entspricht 2x der Frequenz des Grundtones. Folglich steh die Frequenz von g zur Frequenz von c in einem Verhältnis von 3/2.
  • 5/4 – die reine Terz. In der Naturtonleiter e‘ ist der 5. Naturton, c‘ der 4. Naturton. Der Dur-Akkord c-e-g hat folglich ein Frequenzverhältnis von 4-5-6.
  • 4/3 – die reine Quarte. In der Naturtonleiter c‘ zu g.

Pythagoras war schon damals mit dieser Einsicht nicht alleine. Die Musik zahlreicher anderer Kulturkreise (insbesondere indische Ragas) beruht auf solchen Harmonien.

Töne klingen dann harmonisch zusammen, wenn sich das Verhältnis ihrer Grundfrequenz als einfacher Bruch darstellen lässt.

Warum das mathematische Frequenzverhältnis von Schallwellen via Gehör und Gehirn bei uns das Gefühl von Harmonie auslöst, kann die Wissenschaft nicht erklären. Immerhin habe ich zwei intuitive Narrative:

  • Die Oberton-Erklärung: Töne mit einem einfachen Frequenzverhältnis haben gemeinsame Obertöne. Zum Beispiel ist der 2. Oberton (der 3. Naturton) von c (g‘) auf der Naturtonleiter identisch mit dem 1. Oberton von g (g‘). Weichen diese Töne hingegen um etwa 3-20 Hz voneinander ab, kommt es zu sogenannten Schwebungen.  Bei einer Schwebung verschieben sich die „Wellen“ der beiden Töne laufend gegeneinander. Dadurch wirken sie einmal gegenseitig verstärkend, dann wieder gegenseitig aufhebend. Der Effekt ist eine pulsierende Lautstärke. Bei Harmonien auf der Naturtonleiter kommen Schwebungen nicht vor, da die Frequenzverhältnisse exakt stimmen. Dadurch verschmilzen die Obertöne der harmonischen Intervalle ineinander. Bei der gleichstufigen Stimmung entstehen hingegen zahlreiche Schwebungen mit unterschiedlichen Pulsfrequenzen auf unterschiedlichen Obertönen. Hier ein Video, der den Unterschied grafisch und akustisch illustriert.
  • Die Unterton-Erklärung: Neben den Obertönen schwingen implizit immer auch Untertöne mit. Insbesondere der Grundton ist quasi die Wurzel jedes Tones auf der Naturtonleiter. Nehmen wir beim c nur jede 2. Schwingung, landen wir beim Grundton C. Nehmen wir beim g nur jede 3. Schwingung, landen wir auch beim Grundton. In der Frequenz des Grundtones treffen sich die Schallwellen der beiden Töne immer wieder am selben Ort. Der Grundton „erdet“ quasi die Intervalle auf der Naturtonleiter. Das funktioniert sogar bei den höheren Obertönen. Z.b klingt der Intervall zwischen dem 9. und 11. Oberton zuerst dissonant; kommt jedoch der Grundton dazu, fügt sich das Puzzle zu einem Gesamtbild:  
9. und 11. Oberton zuerst ohne, dann mit Grundton

Was also sind Naturtöne? 

„Naturtöne“ ist ein Unwort. Es geht nicht – zumindest nicht in erster Linie – um Töne. Naturtöne können sehr wohl auch völlig unnatürlich (elektronisch) entstehen, und umgekehrt macht auch biodynamisch angebautes Holz aus einem gleichgestimmten Klavier noch kein Naturtoninstrument.  Ein einzelner Ton ist kein Naturton – auch wenn ein voller Klang mit vielen Obertönen das Naturton-Feeling beflügeln.

„Naturton“ meint „zurück zur Natur“ in der Musik. Wer mit Naturtönen spielt, wirft das Korsett der westlichen Musiktheorie – insbesondere der gleichstufigen Stimmung – ab und begibt sich auf die Wiederentdeckungsreise der reinen Harmonien. Der Schlüssel dazu ist die Naturtonleiter. Das Schlüsselerlebnis ist, wenn die zuerst ungewohnten Harmonien plötzlich unter die Haut gehen.

Der Begriff „Naturtöne“ steht auch im ethnologischen Kontext des deutschsprachigen Alpenraums. Insofern greifen wir zurück auf die lokale musikalische Tradition, Instrumente und Musikstile. Natürlich kommen einem da zuerst Juuzen und Alphornklänge in den Sinn. Später dann Streichinstrumente und Barocktrompeten. Wer sich mit Naturtönen auseinandersetzt, stösst aber sehr schnell auf andere Kulturen und musikalische Strömungen anderer Epochen. Afrikanische Pygmäen jodeln, australische Aboriginees spielen Didgeridoo, amerikanische Gospelsänger singen im Perfect Pitch. Kulning ist verwandt mit Jodeln, die Trembita mit dem Büchel und der tibetischen Dungchen. Ragas folgen Pythagoras.  Naturtöne führen nicht zu Hudigäggeler, sondern zu Multikulti. 

Und gehen wir noch einen Schritt weiter. Manchmal findet man in Trivia die klügsten Zitate:

Musik ist das Telefon Gottes, mit dem er uns anruft um zu sagen, dass er an uns denkt.

Thees Ulmann: Sophia, der Tod und ich.

Naturton-Musik ist eine Naturerfahrung. Wer keine Angst hat, dem esotherischen Pathos zu verfallen, mag das auch „spirituelle“ Erfahrung nennen. Der Schritt ist gar nicht so gross: Was waren denn die gregorianischen Gesänge anderes als die Suche nach Spiritualität durch perfekte Harmonien? New Age war eine Naturtonbewegung (in Form von indischer Musik). Es gibt keine Statistik dazu, aber ich wage zu behaupten: überdurchschnittlich viele Musiker, die sich mit Naturtönen befassen, setzten sich gleichzeitig mit unterschiedlichen Arten von Meditation auseinander. Und hier schliesst sich der Kreis mit dem Jazz. Wie hiess er doch gleich, der Musiker, der alle anderen mit immer neuen schrägen Harmonien überraschte? Monk! 

Links

Eine sehr spannende Darstellung der Mathematik hinter der Musik findet sich hier.

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