Snobs im musikalischen Klassenkampf

“Art as a social institution is built on snobbery.” Roger Fry 1921

Vor vierzig Jahren flogen in Zürich die Pflastersteine. Die bewegte Jugend randalierte in der Wohlfühlzone der Nachkriegsgeneration. Im kalten Krieg rief sie zum Umsturz der Gesellschaftsordnung auf und forderte ihren Platz für alternative Kulturformen. Sie wollte alles, und zwar subito. Vielleicht ging es aber auch nur um Musik. Die bürgerliche Regierung hatte eben einen hohen Betrag für das Opernhaus gesprochen. Es lief ein Monteverdi-Zyklus. Die Jugend tanzte lieber zu Punk, Rock und Reggae. Ende Mai 1980, nach einem Konzert von Bob Marley, begannen die Opernhauskrawalle. Im Jahr davor hatte der französische Soziologe Pierre Bourdieu sein Buch La Distinction publiziert [1]. Das Werk legt die Verbindung zwischen kulturellen Vorlieben und der Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Schichten offen. Die Eliten dominieren nicht nur Wirtschaft und Politik, sondern definieren auch die Grenzen zwischen gutem Geschmack und Vulgärem – ein Opernbesuch im Smoking als Waffe im Klassenkampf. Mit ihrem Aufstand gegen die „Bonzenkultur“ nahm die Zürcher Jugend die deutsche Übersetzung von Bourdieu (Die feinen Unterschiede, 1982) voraus.

Bourdieu gilt heute als Klassiker. Dank ihm verstehen wir, dass es beim Kulturkonsum nicht nur um die individuelle Erfahrung von Ästhetik geht, sondern vor allem um einen sozialen Akt. Allerdings sind seine Schlussfolgerungen inzwischen etwas verstaubt. Bourdieu betrachtete Individuen primär als Teil einer Klasse. Damit steht er im Widerspruch zur heutigen Sichtweise, wonach sich Individuen mehrdimensional – Geschlecht, ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung oder Religion – definieren [2]. Die Beobachtungen für die französische Gesellschaft der frühen 60er Jahr lassen sich auch kaum auf die heutige Zeit übertragen. Die Kongruenz von Musikgeschmack und sozialer Schicht (klassische Musik für die Eliten, Volksmusik und Schlager für den Rest) ist zerbrochen.

Richard Peterson hat die These formuliert, die Eliten seien von Snobs zu Allesfressern (omnivores) mutiert [3]–[5]: Die Bewohner der Goldküste trifft man heute nicht nur im Opernhaus, sondern auch am Montreux Jazz Festival und an der Cüpli-Bar beim Konzert von Elton John am Live at Sunset. Die These hat einen ganzen Ast der Musikforschung über die zwei Jahrzehnte auf Trab gehalten, dabei aber hauptsächlich neue offene Fragen generiert. Was charakterisiert den Omnivoren – der Konsum verschiedener Musikstile, von Musik von Künstlern unterschiedlichen Renomées oder Kulturkonsum insgesamt (einschliesslich dem Besuch von Disney-Land)? Welchen Einfluss haben soziale Mobilität und offene Bildung? Was verschmäht der Allesfresser? Ist das Allesfressertum nicht eher ein Phänomen der oberen Mittelklasse? Und was erklärt die postulierte Mutation? [6]–[9] Kurz, es fehlt ein aktualisiertes Modell, das den Zusammenhang zwischen Musikkonsum, der sozialen Definition von gutem Geschmack und der Abgrenzung sozialer Gruppen überzeugend darlegt.

Vielleicht hätte die Forschung die Omnivoren-Sackgasse vermeiden können, hätte sie die verwendeten Konzepte von Anfang an kritischer hinterfragt. Schon das Bild des Allesfressers: typische Allesfresser im zoologischen Sinn, z.B. der Schwarzbär, zeichnen sich durch ihre kulinarische Anspruchslosigkeit und ihren leidenschaftlichen Appetit aus – kaum ein passendes Bild für die globalen Eliten. Der alternative Begriff des (postmodernen) Eklektizismus mag der Sache näher kommen [10], hat sich aber nicht durchgesetzt. Besonders unglücklich ist die Beschreibung der auf klassisch-univoren Eliten à la Boudieu als Snobs. Dabei hätte gerade der Begriff des Snobs den Weg zu einem Modell post-Bourdieu weisen könnte.

Die ethymologische Herkunft des Begriffs Snob ist unklar und seine Bedeutung hat sich über die Zeit gewandelt [11]. Ursprünglich beschrieb er den parvenue– in Bourdieus Terminologie Individuen mit viel ökonomischem und wenig kulturellem Kapital. In ihrem Essay Am I a Snob von 1936 prägte Virginia Woolf die Aussage „The essence of snobbery is that you wish to impress other people.“ Obwohl das Gewicht der Aussenwirkung diskutierbar ist [12] , bleibt diese von Woolf identifizierte Essenz: Snobismus ist primär eine Strategie der Abgrenzung, und zwar gegenüber der Masse [13]. Nur scheinbar geht es um den Konsum von Luxusgütern. Zentraler ist die demonstrative Darstellung von Präferenzen (und Beziehungsnetzen) entlang impliziter Normen. Mit einem Bild von Roger Fry: der Snob hängt in seinem Haus ein Gemälde an die Wand, das ihm gar nicht gefällt [14]. Aus dieser Sicht sind Bourdieus Eliten und Petersons Omnivoren zwei Ausprägungen von Snobs. Sie unterscheiden sich bloss durch einen unterschiedlichen Kontext der Abgrenzung. Der Opernhausbesuch hat nicht mehr denselben Effekt wie vor vierzig Jahren, wenn im Publikum Schulklassen und im Orchestergraben Violinisten aus China sitzen. Und wenn jede und jeder via Spotify Zugang auf die besten Interpreten hat [15]. Die Punchline hier: die (englische) Literatur hat sich mit den unterschiedlichen Aspekten des Snobismus befasst und weist damit möglicherweise den Weg für ein post-modernes Habitus-Konzept.

Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Snobs öffnet auch den Blick auf die Dynamik [16]. Snobs erscheinen in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels und sind Symptom von Verunsicherung. Reagieren Eliten mit snobistischem Kulturverhalten, wenn sie sich bedroht fühlen? Erklärt dies das damalige Verhalten des Zürcher Stadtrats, das Posten von Konzertbesuchen auf Instagram durch Influencer, die Verwandlung von Konzerten zu Events? Lässt sich snobistischer Kulturkonsum (demonstrativ und ohne emotionalem Engagement; „Verkrustung“) operationalisieren? Zumindest scheinen Fragen, die sich auf den Wandel richten (im Gegensatz zu Strukturen) als vielversprechend.

Wandel hat auch die Zürcher Jugend erfahren. Die Pflasterstein-Werfer von damals sind heute Teil des kulturellen Establishment. 2020 erlebten sie ihre eigenen Krawall. An einer Mitgliederversammlung wurden sie von der Partyjugend aus dem Vorstand der Roten Fabrik geworfen[17]. Wieder ging es um Musik.

[Diesen Aufsatz habe ich im Rahmen des Seminars „Trends und Themen – Musik und Gesellschaft“ and der Hochschule Luzern verfasst.]

Literaturhinweise

[1] P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 28. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2021.
[2] C. Reinecke, „Der (damalige) Geschmack der Bourgeoisie. Eine historische Re-Lektüre von Pierre Bourdieus ‚Die feinen Unterschiede‘ (1979)“, Zeithistorische Forschungen, Bd. 14, Nr. 2, S. 376–383, 2017.
[3] R. A. Peterson, „Understanding audience segmentation: From elite and mass to omnivore and univore“, Poetics, Bd. 21, Nr. 4, S. 243–258, 1992.
[4] R. A. Peterson, „The rise and fall of highbrow snobbery as a status marker“, Poetics, Bd. 25, Nr. 2–3, S. 75–92, Nov. 1997, doi: 10.1016/S0304-422X(97)00013-2.
[5] R. A. Peterson und R. M. Kern, „Changing Highbrow Taste: From Snob to Omnivore“, Am. Sociol. Rev., Bd. 61, Nr. 5, S. 900, Okt. 1996, doi: 10.2307/2096460.
[6] K. van Eijck und W. Knulst, „No More Need for Snobbism: Highbrow Cultural Participation in a Taste Democracy.“, Eur. Sociol. Rev., Bd. 21, Nr. 5, S. 513–528, 2005.
[7]  N. Robette und O. Roueff, „An eclectic eclecticism: Methodological and theoretical issues about the quantification of cultural omnivorism“, Poetics, Bd. 47, S. 23–40, 2014.
[8] P. Coulangeon, „Social mobility and musical tastes: A reappraisal of the social meaning of taste eclecticism“, Poetics, Bd. 51, S. 54–68, 2015.
[9]  J.-F. Nault, S. Baumann, C. Childress, und C. M. Rawlings, „The social positions of taste between and within music genres: From omnivore to snob“, Eur. J. Cult. Stud., Bd. 24, Nr. 3, S. 717–740, Juni 2021, doi: 10.1177/13675494211006090.
[10] H. Glevarec und M. Pinet, „Is Cultural Eclecticism Axiological and a New Mark of Distinction? Cultural Diversification and Social Differentiation of Tastes in France“, Cult. Sociol., Bd. 11, Nr. 2, S. 188–216, Juni 2017, doi: 10.1177/1749975516677366.
[11]  J. Epstein, Snobbery: the American Version. 2003. Zugegriffen: Jan. 06, 2022. [Online]. Verfügbar unter: http://www.vlebooks.com/vleweb/product/openreader?id=none&isbn=9780547561646
[12] S. Patridge, „Snobbery in Appreciative Contexts“, Br. J. Aesthet., Bd. 58, Nr. 3, S. 241–253, Sep. 2018, doi: 10.1093/aesthj/ayy024.
[13] S. Latham, Am I a Snob?: Modernism and the Novel. Cornell University Press, 2003. doi: 10.7591/9781501727566.
[14] R. Fry, A Roger Fry Reader. University of Chicago Press, 1996.
[15] M. Avdeeff, „Technological engagement and musical eclecticism: An examination of contemporary listening practices“, Particip. J. Audience Recept. Stud., Bd. 9, Nr. 2, S. 265–285, 2012.
[16] D. Morgan, Snobbery: the practices of distinction. 2019.
[17] D. Hunziker, „Abrieb in der Fabrik“, Wochenzeitung, Okt. 21, 2021.

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